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Subjektive Objektivität oder objektive Subjektivität

Vor einigen Tagen stand ich vor meinem Spiegel. Dieser steht ein bisschen schief an der Wand, sodass er ein leicht verzerrtes Bild meines selbst darstellt.

Und so stand ich davor und stellte für mich fest, dass meine Beine kurz auszusehen scheinen. Ich sagte mir selbst in dem Moment also, dass meine Beine in meiner subjektiven Wahrnehmung kurz sind. Nun muss man dazu sagen, dass ich sehr groß bin, also objektiv betrachtet lange Beine habe.

 

Aber was bedeutet es eigentlich, objektiv lange Beine zu haben?

Wer sagt mir, dass meine Beine objektiv lang sind? Woran mache ich das fest? Ich kann lange Beine haben im Vergleich zu meinen Nachbarn, die ich jeden Tag an mir vorbeilaufen sehe, ich kann lange Beine haben im Vergleich zu den Menschen, die ich auf einem Bildschirm betrachte, die mir auf der Straße entgegenlaufen. Ich kann meine Beine messen, indem ich mir im Internet anschaue, von welchem Startpunkt zu welchem Endpunkt man die Beinlänge misst und dann kann ich meine Beinlänge bestimmen. Diese Länge kann ich dann wieder mit den Beinlängen anderer Menschen vergleichen und mir sagen, stimmt, objektiv gesehen habe ich lange Beine. Aber ich kann auch kurze Beine haben, denn wenn ich meine Beine mit einer Giraffe oder einem Kamel vergleiche, sind sie doch sehr kurz.

Ist meine Sichtweise auf meine Beine in dem Fall also objektiv oder subjektiv? Ist meine Sichtweise also unabhängig von mir als Subjekt und meinem Bewusstsein existierend und unvoreingenommen oder spielen meine persönlichen Gefühle, Meinungen und Urteile bei der Bewertung ebenfalls eine Rolle?

Und spielt es eine Rolle, ob ich ein Subjekt oder ein Objekt betrachte? Sind meine Beine eher ein denkendes, fühlendes Subjekt oder ein Gegenstand, ein Ding, das ich betrachte? Oder einfach ein Objekt als Teil eines Subjekts, das selbstständig denkt?

Da meine Beine nicht denken können, zumindest nicht, dass es unserem menschlichen Bewusstsein möglich wäre, können wir davon ausgehen, dass meine Beine Objekte sind. Und wenn wir die tatsächliche Länge festlegen möchten und objektiv betrachten, dann ist es sinnvoll, ganz objektiv und tatsächlich vorzugehen – das Objekt, das dem Verstand vorgesetzte Ding genauer betrachten zu wollen. Also kann ich meine Beine messen, ich kann den Umfang messen, ich kann schauen, ob sie unterschiedlich lang sind. Dadurch erhalte ich einige Sachgrößen. Diese Größen und Längen kann ich dann in den Kontext setzen. Dabei ist es sinnvoll, die tatsächliche Größe mit anderen Dingen zu vergleichen, die in ihrer Form und ihrer Art ähnlich sind. Also kann ich alle Menschen auf der Welt nehmen und die Länge ihrer Beine messen. Diese Längen kann ich dann miteinander vergleichen. Ich kann einen Durchschnitt berechnen, bestimmte Standardwerte berechnen und werde sehen, dass sich die Beinlänge der Menschen auf der Erde ungefähr anhand einer Glockenkurze zeigen lässt. Da kann ich meine eigene errechnete Beinlänge einfügen und erhalte dann einen Wert, dass meine Beinlänge zum Beispiel in den Top 10% aller Beinlängen liegt. Diese Vergleiche kann ich noch anhand anderer Vergleichsgruppen ziehen und erhalte damit ein relativ akkurates Bild meiner Beinlänge im Vergleich zu anderen Beinlängen.

Dieser Vorgang ist objektiv, ich als Subjekt mische mich nicht ein, ich lasse mich bei diesem Prozess nicht von meinen Gefühlen leiten.

Oder doch? Lasse ich mich doch von meinen Gefühlen leiten?

Vielleicht tue ich das. Aber nur in der Art, wie ich mit der tatsächlichen, objektiven Größe umgehe und welche Vergleichsgrößen ich anlege. Wenn ich rein objektiv bleibe und in der Lage bin, die Gesamtbevölkerung und alle ähnlichen Objekte mit in die Gleichung einzubeziehen. Aber was ist, wenn ich nun, wie ich vor ein paar Tagen, vor dem Spiegel stehe und das Gefühl habe, meine Beine wären kurz. Welche Informationen werde ich nun in mich aufnehmen? Werde ich meine Beinlänge immer noch genauso objektiv betrachten können, wie wir gerade dargestellt haben? Oder schaue ich mir als Vergleichsgröße nicht vielleicht dann die Niederländer an, die bekanntermaßen besonders große Menschen beheimaten. Unter ihnen werden meine Beine kurz sein. Da werden es dann nicht mehr die Top 10% aller Beinlängen sein, sondern nur noch die Top 70%, und damit werde ich unterdurchschnittlich lange, also kurze Beine haben.

 

Was ist also mit meinem Urteil über meine Beinlänge?

Sind meine Beine nun objektiv betrachtet lang oder kurz? Wo wir doch gerade festgestellt haben, dass sie objektiv zwar lang wirken mögen, wenn man alle Menschen auf der Erde nimmt? Aber kurz, wenn man nur einen Teil der Menschen nimmt? Und was ist, wenn man nur Frauen nehmen würde? Oder nur Männer? Nur Menschen mit langen Armen? Oder Beinen? Ist nicht die Tatsache, dass ich eine Bewertung vornehme, indem ich mein Gefühl und meine Vorstellung meiner Beinlänge mit einfließen lasse, in sich schon subjektiv? Sie wird von einem Subjekt durchgeführt, das ein Objekt betrachtet, dem Objekt selbst aber eine Wertung auferlegt. Sodass wir schließen können, dass das Objekt objektiv betrachtet existiert, aber in dem Moment, wo ich es betrachte, indem ich versuche, dem Objekt einen Sinn zu geben, nämlich einen langen oder kurzen Sinn, raube ich dem Objekt seine Objektivität und verwandele es in ein Subjekt.

Wenn ich aber mit allen objektiven Dingen so vorgehe und ihnen durch meine auferlegte Subjektivität ihre eigene Objektivität raube, wo bleiben dann die tatsächlichen Objekte? Kann ein Schachbrett einfach Schachbrett sein ohne meine auferlegte Subjektivität, indem ich es subjektiv in einen Kontext setze und ihm damit seiner objektiven Existenz beraube? Kann ein Sofa einfach Sofa bleiben? Oder ist es nicht durch die Tatsache heraus, dass es subjektiv betrachtet und verglichen wird, ebenso ein Subjekt wie auch ein Objekt?

Nun kann man natürlich einwerfen, dass diese ganz Überlegung etwas weit hergeholt ist. Denn wie kann ich denn behaupten, dass Objekte wie ein Brett, Gras, Fenster, ein Atom Subjekte sein können? Wenn wir uns aber den Ursprung des Wortes Objekt anschauen, dann ist das etwas, das einer Aussage zugrunde liegt. Und damit ist es etwas, dass ich nicht nur dem Verstand aussetze, wie es das Objekt ist, sondern ich kann dieses Objekt auch nehmen, und in dem ich es mit meiner Subjektivität anreichere, liegt es meiner Aussage dann eben auch zugrunde, und damit ist es ein Subjekt. Ich brauche also Objekte, um meinen Verstand überhaupt erst in Gang zu setzen, mache dann aber aus diesen Objekten Subjekte durch die Tatsache heraus, dass ich diese mit meinem Verstand anreichere und meinen Aussagen zugrunde lege. Somit ist ein Grashalm ein Objekt. Dieses kann ich betrachten, anschauen, ihm einen Sinn geben. Aber in dem Moment wo ich dem Grashalm einen Sinn gegeben habe, es subjektiv betrachtet habe, ist es auch schon ein Subjekt, da ich es ja einer Aussage von mir zugrunde lege. Denn selbst die Aussage ‚Der Grashalm ist ein Grashalm‘ besagt ja bereits, dass ich das, was ich dort sehe, das Objekt in einen Kontext setze, ich betrachte es, bewerte es, schaue mir seine Einzelteile an, bilde mir eine Meinung und sage ‚aus meiner Erfahrung heraus, aus dem Vergleich mit anderen Dingen, die ich schonmal gesehen habe, gehe ich davon aus, dass das ein Grashalm sein muss. Also ist der Grashalm ein Grashalm‘.

 

Das klingt sehr nach einem theoretischen Gedankenexperiment. Kann ich damit auch etwas Praktisches anfangen?

Ist es nicht schon eine ziemliche Erkenntnis, wenn ich weiß, dass jedes Objekt durch die Subjektivität von Subjekten zu einem Subjekt gemacht wird? Heißt das im Gegenzug, dass ich aus Subjekten durch die Objektivität von Objekten Objekte machen kann?

Da stellt sich erst einmal die Frage, ob es überhaupt denkende Objekte gibt, denen wir Subjekte einen Sinn zu entlocken in der Lage sind. Und ist nicht ‚das denkende Objekt‘ bereits ein Oxymoron? Denn ein Objekt ist da. Nicht mehr und nicht weniger. Gäbe es nur Objekte und keine Subjekte, dann könnte ein Objekt auch einfach Objekt bleiben. Selbst wenn man so etwas wie einen Computer in die Diskussion wirft, wird klar werden, dass auch ein Computer denkend ist, sein Denken wurde von Subjekten entworfen.

Das heißt, die Möglichkeit, aus Subjekten Objekte zu machen, schlägt fehl. Uns bleibt also nur zu erkennen, dass auf der Welt durch die Anwesenheit von Subjekten nur Subjekte existieren. Wenn aber nur Subjekte existieren und subjektiv agieren, dann können wir daraus schließen, dass auch jede Aussage, jede Bewertung, jede Beschreibung, jede Handlung subjektiv ist.

Das heißt, auch wenn ich mir versuche einzubilden, dass ich objektiv handele, tue ich es am Ende nicht. Es bleibt subjektiv. Denn alles ist subjektiv.

 

Jetzt wird der eine oder andere einwerfen, ‘aber was ist denn mit der Wissenschaft? Da handeln wir doch objektiv!’

Ja, wir denken, dass wir objektiv agieren. Aber tun wir das wirklich? Schauen wir nicht alle durch die Brille unserer eigenen Subjektivität? Sind wir wirklich, wenn wir behaupten objektiv zu sein, in der Lage zu behaupten, dass unsere Meinung, unsere Aussage absolut und komplett und immer der absoluten Wahrheit entspricht? Wahrheit über alle Grenzen, Ecken, Welten hinweg. Immer? Das ist nicht der Fall. Wir können nur darauf pochen, versuchen, durch viele Subjekte, die zum Beispiel gemeinsam ein Objekt genau betrachten, zu Intersubjektivität zu gelangen, also zu der Subjektivität mehrerer Subjekte. So gehen wir heute davon aus, dass die Erde rund ist. Mehrere Subjekte haben sich dies angeschaut, haben gemessen, haben nachgeschaut, haben das Objekt, die Erde, ihrem Verstand ausgesetzt und die Erde wiederum liegt nach genauen Untersuchungen ihrer Aussage zugrunde, wenn sie sagen, die Erde ist rund. Hier liegt eine so große Intersubjektivität zugrunde und gleichzeitig eine kleine Intersubjektivität, die sagt, die Erde sei eine Scheibe, dass wir es als erwiesen ansehen, dass die Erde rund ist. Und doch, wir basieren unsere Aussage auf der Art, wie wir das Objekt betrachten und wie wir zum jetzigen Zeitpunkt in der Lage sind, die Erde zu messen. Früher dachten wir, die Erde sei eine Scheibe. Weil wir andere Methoden hatten, weil andere Subjekte auf die Erde geschaut haben. Und vielleicht werden wir in Zukunft sagen, mit weiteren Untersuchungsmethoden, die Erde ist rund, aber sie ist auch wellig. Wir können dem wahren Objekt also immer näherkommen (oder uns immer weiter entfernen), aber wir werden nie das Objekt in seiner reinen Objektivität begreifen können.

 

Und wenn wir es nie begreifen können, was machen wir mit dieser Tatsache?

Da wir nun wissen oder zumindest zu wissen glauben, können wir unsere Verhaltensweisen, unsere Denkmuster, unsere Prinzipien daran anpassen. Wir werden nie das wahre Objekt spüren, sondern immer nur eine Annäherung. Aber ist das schlimm? Nein, wieso sollte es? Das ist Teil unseres gesamten menschlichen Strebens, der Wahrheit immer ein kleines Stückchen näher zu kommen.

Wissenschaftler, aber auch Psychologen, Philosophen, und einige mehr sehen diese Aufgabe als so wichtig an, dass sie sie zum Beruf gemacht haben. Und auch jeder von uns versucht, dieser Wahrheit, dieser genauen Darstellung von Objekten und auch Subjekten näher zu kommen, sich dieser anzunähern, auch wenn wir sie nie allumfassend begreifen können.

Denn alles, was wir begreifen ist das, was wir aufnehmen, was wir lernen, was wir von anderen mitbekommen. Und daraus bauen wir uns unsere einzigartigen Sichtweisen auf die Welt. Unsere eigenen subjektiven Gedanken und Ansichten. Und mit diesen interagieren wir mit der Welt.